NISCHENLAND

Ein künstlerischer Vortrag von willems&kiderlen im Rahmen der FLUX Residenz im Lautertal.

Was ist eine Nische? Was sind ländliche Nischen? Nischen bedeuten Freiraum für Eigensinniges und Spezialistentum, Versuchsanordnungen und Modellhaftes. Aber wir laufen Gefahr, uns in ihnen zu verlieren und den Weg raus nicht mehr zu finden. Nischen begegnen uns überall und doch sind sie schwer festzulegen. Solidarische Landwirtschaftsmodelle, Rückzugsorte von Kindern, Ackerstreifen als Wanderkorridore und völkische Landnahme – all das wird Nischen genannt. Aber von wem? Was macht sie aus? Wie gehen wir mit ihnen um? Und warum haben die Kinder jetzt plötzlich das Wort?

willems&kiderlen laden im Rahmen ihrer zweiten FLUX Residenz zu einer Lecture über Chancen und Abgründe des Abseitigen und Unbeobachteten ein. Unterstützt von den drei Kindern Hannah Rettig, Amy Knapp und Philipp Kriegbaum stolpert und schwebt das Künstler*innen-Duo durchs NISCHENLAND, das weit über den Odenwald hinausreicht.



Mit Dank für die Gespräche und die Empfehlungen an: Dr. phil. Andreas Gehrlach (Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin), Vivian Glover (Gemüsegarten Hoxhohl, Solidarische Landwirtschaft im Modautal und an der Bergstrasse), Julia Kriegbaum (Lautertal), Martina Limprecht (NABU KV Odenwaldkreis), Daniel Loick (Universität Frankfurt/M junior Professor, Kunstakademie Düsseldorf), Dr. Eike Lena Neuschulz (Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung), Marion Pfaffenberger (Reichenbach), Familie Rettig (Lindenfels), Prof. em. Dr. Gerold Scholz (Institut für Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/M), Karl-Heinz Theußen (SCI internationaler Sozialverband Moers), Tibor Veres (Gasthaus zum Erbacher Hof), Schulleiter Alwin Zeiss (Mittelpunktschule Gadernheim) und diverse Spaziergänger*innen. Im Rahmen von FLUX / gefördert durch FLUX & “Tanz und Theater machen stark”.

–>   Skript mit Originaltönen zu NISCHENLAND

(ZUSCHAUER kommen rein, KINDER in AKTION)

EINSPIELER – 🎧 DEFINIERE NISCHE! (knapp 5 Minuten, mit Vivian Glover, Andreas Gerlach, Karl-Heinz Theussen, Daniel Loicke, Christoph Speckmann)

MERET (Voice-Over): Seht ihr den Vorhang? Dahinter ist unsere Nische. Seht ihr links die Treppe? Geht sie hoch und nehmt Platz.

KIM: Liebes Publikum, liebe Nischenbewohner dieser Bühnennische, sicherlich kennt ihr die Redewendung: „Du hast deine Nische gefunden.“ Auf einem Familienfest 2007 meinte das jedenfalls mein Onkel zu mir, als ich ihm erzählte, dass ich jetzt angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiere – und auch vorhabe, mich beruflich im Theater einzunisten. Ich fand das schön, dass er das sagte. Was aber meinte er eigentlich genau damit? „Du hast deine Nische gefunden.“ Er meinte wohl, dass ich meinen Platz in der Welt nun gefunden hätte – oder anfange, ihn zu finden. Für ihn ist das Theater ein kleiner und ein besonderer Ort. Weil er damit wenig zu tun hat. Und weil damit wohl insgesamt weniger Leute zu tun haben. So hat für Außenstehende das Künstlertum immer etwas exotisches, etwas nicht normales, etwas nischiges, etwas, das wenige tun und das sehr speziell ist. Was also eine Nische ist, hängt immer an der Perspektive desjenigen, der etwas als eine Nische beschreibt. Und so bin ich also 2007 für meinen Onkel zum Nischenbewohner geworden und mache jetzt solche Sachen wie das hier. Beruflich.

EINSPIELER – 🎧 Dr. Eike Lena Neuschulz 1

KIM: Dr. Lena Eike Neuschulz vom Biodiversitäts-Forschungs-Zentrum der Senckenberg Gesellschaft sagt, die Nische ist der Beruf einer Art. Also, die Nische beschreibt die Art und Weise, wie eine Art etwas tut und was sie dafür braucht: Eine bestimmte Temperatur, eine bestimmte Bodenfeuchtigkeit, einen bestimmten PH-Wert, eine bestimmte Luftfeuchtigkeit und so weiter. Also: Kein Ort, sondern …

EINSPIELER – 🎧 Dr. Eike Lena Neuschulz 2

KIM: So, so. Also doch ein Raum. Aber …

EINSPIELER – 🎧 Dr. Eike Lena Neuschulz 3

KIM: Und der Mensch. Was ist seine ökologische Nische? Wir haben einen sehr breiten Toleranzbereich, vor allem durch unsere Technik können wir es fast überall aushalten auf der Erde. Wenn wir nun aber das Konzept der ökologischen Nische auf den Menschen übertragen wollen, haben wir ein Problem. Denn dann sehen wir den Menschen, oder verschiedene Menschen!, als eine Art oder mehrere Arten an, die von Natur aus etwas sind oder nicht sind.

KIM: Dann sind wir ganz schnell bei "den Deutschen, die von Natur aus fleißig sind, den Griechen, die von Natur aus faul sind" – und so weiter. Und das ist ja bekanntlich Bullshit. Wir werden zu dem gemacht, was wir sind, weil wir auf eine bestimmte Art sozialisiert werden, und nicht, weil wir unverändert von der Natur aus dazu bestimmt sind. Die Nische als einen BERUF anzusehen, finde ich aber erstmal einen schönen Gedanken. Wenn wir mal davon ausgehen, dass wir uns selber einen Beruf aussuchen und ihn auch ändern können. Auch wenn das nicht immer so einfach ist. Prinzipiell entscheiden WIR uns. WIR entscheiden uns für eine Nische ODER wir rutschen eben in eine Nische ab oder werden da hinein gedrängt, obwohl wir es gar nicht wollen. Die Nische bestimmt die Tätigkeit, die zu mir gehört, die mich ausmacht und die ich auch ausmache.

KIM: Ich habe mich gewissermaßen im Theater eingenischt. Und da zu dieser Nische auch immer ein Publikum gehört, das man einlädt, mit dem man etwas teilt – eine Aufführung oder eben DAS HIER – sitzt ihr jetzt auch hier. In meiner Nische. In unserer Nische. Wir sind gewissermaßen eine temporäre Nische, die für die Dauer von ca. 2 Stunden existiert, wenn wir mal davon ausgehen, dass ihr noch etwas bleibt für Kaffee und Kuchen. Aber mit den Nischen hat es noch etwas anderes auf sich! Ebenfalls im Jahr 2007, als ich mein Studium begonnen hatte, saß ich in einer Bar in Düsseldorf und kam mit einem Typen beim Bier ins Gespräch. Als ich so erzählte, was ich mache, sagte er: „Ohh. Dann pass mal jut auf wenn du da so in die Theater-Ecke jehst. Da sind viele abjehoben und einjebildet. Guck, dat du in Kontakt zu Leuten bleibst, die außerhalb der Theaterwelt leben. Bleib wie de bis un vergiss nisch: Jede Jeck is anders.“

KIM: Abgesehen davon, dass ich mich nicht mehr erinnere, wieso er dazu berufen war, mir das zu raten oder eigentlich zu wissen wie ich bin – aber so sind die Rheinländer VON NATUR AUS! – blieb der Satz doch in mir hängen. Es geht wohl eine Gefahr von der Nische aus. Nämlich die Gefahr, darin zu versacken, sich darin einzuschließen und nur noch unter seinesgleichen zu sein. Und was passiert, wenn wir Lebenswelten, wenn wir die Nischen, in und mit denen wir existieren können, abschotten und einschießen, einen Zaun drum machen und kontrollieren, das sehen wir hier:

VIDEO: "T-REX ATTACK"

KIM: Hier in Jurassic Park ist die Nische, die man den gezüchteten Dinosaurieren zugestanden hat, zum Reservat geworden, das, wenn es dann aufbricht, ein Monster freilässt. Meret hat später noch unscheinbarere Monster für euch dabei. Aber zurück! Es gibt also zwei Seiten einer Nische, die einen Widerspruch bilden: Einerseits ist die Nische ein Freiraum oder ein Raum, in dem wir wir selbst sein können: in der Tätigkeit, in dem Beruf dem wir nachgehen. Wo wir uns wohl fühlen, den wir eventuell sogar brauchen um zu existieren, in dem wir uns einrichten und entfalten können. Andererseits besteht immer die Gefahr, dass die Nische, in der wir sind, kippt. Dass sie uns nicht mehr rauslässt oder wir nicht mehr raus wollen. Dass wir in ihr versacken und versumpfen, uns in ihr verlieren, keine Blicke mehr über den Nischenrand werfen, und unter unser gleichen einen Außenblick verlieren. Dann wird sie zum Reservat oder zur Blase und wir verlieren den Anschluss an den Rest.

KIM: Es stehen sich zwei Pole in der Nische gegenüber: der Freiraum und die Abgeschlossenheit. Entfaltungsraum und Abschottungsraum. Als am 8. November 2016 Donald Trump zum 58ten Präsidenten der vereinigten Staaten gewählt wurde, hatte ich das Gefühl, als wären die Geschichten über Batman und Superman zur Realität geworden. Für mich schien es, als wäre einer dieser Bösewichte aus Gotham City, der düsteren Welt voller korrupter Schurken und Bösewichte, in der Batman lebt, aus einem Comic direkt ins Weiße Haus gehüpft. Unvorstellbar. Für mich. Für mich und meine Nische. Keiner konnte es so recht glauben. Aber die Mehrheit hatte ihn gewählt, weshalb ganz viele etwas anderes glauben müssen und in einer ganz anderen Blase unterwegs waren. Da fiel mir auf, dass meine Nische zur Blase geworden war.

KIM: Im Rahmen der Wahlen wurde viel über die sozialen Medien gesprochen, und wie sie Auswirkungen haben auf die Meinungen einer gesamten Gruppe von Menschen. Durch beispielsweise den Facebook-Algorithmus – also die Technik, die macht, dass ich das sehe, was ich sehe, wenn ich die Timeline runterscrolle – sieht man immer nur das, was Maschinen denken, was ich sehen will. So werde ich, wenn Facebook meine einzige Quelle ist, immer mehr mit den Meinungsbildern konfrontiert, die ich eh schon zu meinen eigenen Meinungen zählen würde. Und zack: bin ich in einer Blase. Oder wie der Urbanist Stefan Höhne es sagen würde: in einem Echo-Raum. Und was passiert, wenn ich nur noch meine Meinungen kenne? Dann bekomme ich Angst vor anderen und sehe sie als Gefahr an. Und was passiert dann?

VIDEO: "T-REX 2"

KIM: Aber zurück zur Nische. Ich unterstelle uns mal, dass wir alle unsere Nische finden wollen, unseren Platz in der Welt. Aber sind das eigentlich gute Zeiten für Nischen-Plätze?

NISCHEN RÄUME

KIM: Also gehen wir erstmal davon aus, dass ich für meine Nische einen Raum brauche, einen Platz. Da hab ich als Städter schon mal ein Problem. Der Platz ist nämlich hart umkämpft. Das sieht man an den Wohnungsmärkten unserer Städte. Für eine 2-Zimmer-Wohnung in Frankfurt läppern wir 1000 Euro. Die städtebaulichen Nischen, also freie Lücken, Leerflächen sind in wachsenden Städten hart umkämpft.

EINSPIELER – 🎧 Christoph Speckmann 1

Das sagt Christoph Speckmann vom Städtebauamt Pankow in Berlin. Mit diesen ganzen Bedarfen, in denen wir um die wenigen Nischen konkurrieren, wird der Raum ganz schön eng. Also raus aufs Land! Wie steht es da um die Nischen? Da muss es doch noch welche geben!

MERET: SUCHE NACH DER NISCHE AUF DEM LAND: „Es gehen keine Straßen durch das Tal, sie haben ihre zweigleisigen Wege, auf denen sie ihre Felderzeugnisse mit einspännigen Wägelein nach Hause bringen, es kommen daher wenig Menschen in das Tal, unter diesen manchmal ein einsamer Fußreisender, der ein Liebhaber der Natur ist, eine Weile in der bemalten Oberstube des Wirtes wohnt und die Berge betrachtet, oder gar ein Maler, der den kleinen spitzen Kirchturm und die schönen Gipfel der Felsen in seine Mappe zeichnet. (evtl. HEIDI-MUSIK?) Daher bilden die Bewohner eine eigene Welt, sie kennen einander alle mit Namen und mit den einzelnen Geschichten von Großvater und Urgroßvater her, trauern alle, wenn einer stirbt, wissen, wie er heißt, wenn einer geboren wird, haben eine Sprache, die von der Ebene draußen abweicht, haben ihre Streitigkeiten, die sie schlichten, stehen einander bei, und laufen zusammen, wenn sich etwas Außerordentliches begibt.“

MERET: Kim Willems und ich verbringen im Rahmen einer Künstlerresidenz seit zwei Jahren immer wieder einige Wochen hier im Lautertal, und doch ist dies keine Beschreibung von Reichenbach oder Gadernheim, nicht mal des Odenwalds und nicht mal von uns verfasst. Es ist ein Ausschnitt aus Adalbert Stifters Erzählung BERGKRISTALL von 1845 über das kleine österreichische Dörfchen Gschaid. Wahrscheinlich hat diese Beschreibung nicht mal viel mit dem heutigen Gschaid zu tun, und sicher noch weniger mit Reichenbach oder einem anderem Ort im Lautertal – und doch sind es genau solche literarischen Beschreibung des Landlebens, nach deren Ähnlichkeiten ich, als Städterin, suche, wenn ich „raus aufs Land“ fahre. In dieser Darstellung von Adalbert Stifter wird das in einer Gebirgsregion gelegene Dörfchen Gschaid, wie ja auch der Odenwald mit etwas niedrigeren Bergen eine ist, selbst zur Nische, abgeschottet von außen, von der „Ebene“. Dem Schriftsteller wurde damals schon vorgeworfen, dass er das ländliche Leben `idyllisieren` würde, aber dennoch ist diese Vorstellung vom Landleben als generelles Nischenleben gerade in der Stadt weit verbreitet.

MERET: Was ist dadran? Lebt man hier abgeschieden in seinem Dörfchen? Schon in unserem letzten Projekt STADT LAND KIND haben wir festgestellt, dass selbst die Kinder täglich zwischen vielen Orten hin- und herpendeln, weil das Prinzip der Dorfschule von dem Prinzip der Regionalschule abgelöst wurde, in die Kinder aus der ganzen Umgebung gebracht werden. Hinzukommt der Fußballverein in einem wieder anderen Ort und der Schwimmkurs in der nächsten Kleinstadt. Alles ermöglicht durch den Besitz jeder Kleinfamilie von mindestens einem, wenn nicht zwei oder drei Autos. Das abgeschottete Dorf wurde also durch die höchst vernetzte Region ersetzt – inzwischen werden hier sogar Glasfaserkabel in der Straße unserer Gästewohnung verlegt!

MERET: Okay, man ist nicht mehr abgeschieden oder muss es nicht per se sein. Aber wie auch in der Stadt kann man sich selbst abschotten, und hier hat man viel mehr Platz als in der Stadt. Freiraum hat sicher mit Raum zu tun, in dem überhaupt was entstehen kann. Und wenn in den Großstädten alles immer zugebauter, vordefinierter und teurer wird, dann ist in der ländlichen Gegend vielleicht doch mehr Freiraum, um zu gestalten? Nun sagt ja der Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach: „Platz allein reichte nicht. Der rein physische Ort reicht nicht aus. Es braucht noch ein zusätzliches Mehr.“ Wo finden wir also in der Region Odenwald so ein „zusätzliches Mehr“? Er spricht auch von dem Kleinstraum, den jeder Mensch braucht, um ihn ganz individuell zu gestalten. Wie sehen diese Kleinsträume im Odenwald aus?

NISCHEN IN DER NATUR

KIM: Ja, wo sind diese Kleinsträume, die Nischen im Odenwald? Hier oder hier? Oder hier? Hier? Hier oder hier?




KIM: Das hier ist die Nische von Martina Limprecht.



KIM: 1790 war hier ein altes Rentamt drin, dann wurde es zum Verwaltungsgebäude des Schlosses, später war dann ein Kindergarten hier drin – und noch später eine Kommune, in der mehrere Paare zusammengelebt haben. Heute wohnt Martina Limprecht hier mit einer Freundin. Sie findet, hier könnten sich aber durchaus noch ein paar mehr Käuze einnischen. Denn mit komischen Käuzen kennt sie sich aus. Sie ist leidenschaftliche Ornithologin und Mitarbeiterin vom NaBu im Odenwald-Kreis. Kann sie uns etwas über die Nischen im Odenwald erzählen?

EINSPIELER – 🎧 MARTINA LIMPRECHT 1

KIM: Okay. In den Nischen sind die Spezialisten. Und, wie steht es um diese Nischen und die Spezialisten im Odenwald?

EINSPIELER – 🎧 MARTINA LIMPRECHT 2

KIM: Die Nischen sind also in Gefahr. Sie werden verdrängt von unserer Kulturlandschaft. Also auch hier, auf dem Land, sind die Nischen eher rar. Was ist denn ein Beispiel für so eine kleine ökologische Nische auf dem Land?

EINSPIELER – 🎧 MARTINA LIMPRECHT 3

KIM: Kein Wandern mehr. Kein Verstecken mehr. Also auch hier eher schlechte Zeiten für Nischen im Naturraum, weil alles unter dem Diktat unseres landwirtschaftlichen Kulturraums weichen muss? Oder geht das auch anders?

SoLaWi – DIE GUTE NISCHE?

MERET: Während der letzten Monate fragten wir alle Menschen, denen wir im Odenwald begegneten, was sie für Nischen hier kennen oder welche Menschen sich in Nischen bewegen. Die Mutter von Philipp erzählte uns von Vivian Glover und Alexander Kern im Modautal:

EINSPIELER – 🎧 VIVIAN GLOVER 1

MERET: Vivian Glover und Alexander Kern gingen (wieder) aufs Land und stiegen in die Landwirtschaft ein, obwohl sie keinen elterlichen Betrieb übernehmen konnten – die Landwirtschaft ist ein Berufszweig, der sich in der Regel vererbt: Der Vater übergibt beizeiten den Stab an den Sohn.

EINSPIELER – 🎧 VIVIAN GLOVER 2

MERET: Hochschulabgänger*innen bleiben meistens in der Stadt, auch wenn sie aus ländlichen Regionen kommen. In der Wissenschaft spricht man schon von Braindrain, Tendenz steigend. Eine Chance für ländliche Regionen bestünde vor allem darin, „sich eine Nischenbranche zu suchen und da alle Ressourcen reinzupumpen“, zitiert die FAZ letzte Woche einen Experten. Ist die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) so eine Nischenbranche?

MERET: Inzwischen erhalten 65 Haushalte Bio-Gemüse, Bio-Weide-Eier und Bio-Weide- Hühnerfleisch von Vivian Glover und Alexander Kern, dieses Jahr sollen es 90 werden. Das Prinzip ist, dass diese sogenannten 90 „Ernteteiler“ sich für 1 Jahr die vorher aufgestellten Kosten der Produktion teilen und dann die gesamte Ernte durch 90 Teile geteilt wird – gute und schlechte Ernten! Das befreit die Landwirte vom Wettbewerb mit der Konkurrenz und garantiert ihnen ein sicheres Jahresgehalt – sonst unvorstellbar in der Landwirtschaft. Die „Ernteteiler“ sind viel näher an der Produktion und können jederzeit „ihre“ Felder und Hühnerherden besuchen. Die SoLaWi macht ein ökologischeres, tierfreundlicheres und nachhaltigeres Anbauen und Aufziehen möglich. Dabei sind Ökos, die aus politischer Überzeugung mitmachen, genauso wie mittelständige Handwerker, die wollen, dass die lokale Wirtschaft gestärkt wird. Warum machen das dann nicht einfach alle, das klingt doch toll?

EINSPIELER – 🎧 VIVIAN GLOVER 3

DER BERUF UNSERER KINDER UND DIE SOZIALE KONTROLLE

KIM: Nischen sind also dadurch definiert, innerhalb von welchem System sie sich befinden. Sind unsere Nischen durch unser Wachstum bedroht? Wachstum hört sich doch erstmal gut an: Wachsen. Größer werden. Reifer werden. Das eine auf dem anderen aufbauen. Das hört sich auch so organisch an. Aber zu welchem Preis wachsen wir? Und (KIM steht auf, geht zum Vorhang) wenn wir schon beim Wachsen sind, wie steht es eigentlich um die Nischen unserer Kinder? Was ist für sie eine Nische?

KIM: Vorhang auf!

DER VORHANG GEHT AUF

(HANNAH legt sich ins Bett und fängt laut an zu singen. PHILIPP spielt mit Lego (Sofa + Handy). AMY zieht Amy an.

KIM: Hier wird die Nische zum eigenen Zimmer, zum musikalischen Raum in einem selbst, zur eigenen Geschichtenwelt. Rückzugsorte, Parallelwelten, Spielwelten? Lena Neuschulz hat die ökologische Nische als den Beruf der Arten beschrieben. Was ist eigentlich der Beruf von Kindern? Gibt es so etwas?

EINSPIELER – 🎧 DR. GEROLD SCHOLZ 1

KIM: Kinder leben einen Raum um. Was heisst das denn? Für Philipp wird das Zimmer zum Schauplatz von Schlachten, für Hannah werden das Bett und die Musik zum Rückzugsort für melodische und ambivalente Traumwelten und für Amy wird der Sport zur Nische, in der sie sich wohl fühlt und ihren Platz hat. Man könnte also sagen: Der Beruf des Kindes ist es, die Welt zu entdecken. Und das machen sie von Beruf aus, indem sie spielen und sich in spielerischen Welten einnisten. Wenn Gerold Scholz feststellt, dass Kinder einen Raum umleben, dann heisst das, dass sie in jedem Raum, auch wenn er von den Erwachsenen designt ist und ganz anderen Zwecken dienen sollte, ihre Nische finden können. Ihren Raum, der ihren spielerischen Zwecken dient.

KIM: Und wie steht es um ihren Beruf – und damit um die Spielräume, in denen sie sich einnisten können? Ergeht es ihnen wie den Arten in den Ackerstreifen? In unserer letzten Residenz STADT LAND KIND haben wir gelernt, dass sich die Kindheit gar nicht mehr allzu sehr unterscheidet von einer Kindheit auf dem Land. Aber EIN Problem scheint alle Kinder zu betreffen:

EINSPIELER – 🎧 DR. GEROLD SCHOLZ 2

KIM: Der Beruf der Kinder ist also durch ein Übermaß an Kontrolle gefährdet? Und woran liegt das?

EINSPIELER – 🎧 DR. GEROLD SCHOLZ 3

(HANNAH macht den Vorhang zu.)

KIM: Zu viel soziale Kontrolle scheint Nischen der Kinder in Gefahr zu bringen. Also ganz in Ruhe lassen? Lena Brandau vom Jugendamt in Moers arbeitet viel mit Jugendlichen. Für sie besteht der Job von Jugendlichen darin, aufzufallen. Laut zu sein, sich in Szene setzen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das geht am besten in den Nischen der Jugendgruppen: Auf dem Spielplatz ab 21 Uhr entsteht oftmals so eine Nische. Und was, wenn diese Nische dann außer Kontrolle gerät? Wenn die Jugendlichen anfangen zu pöbeln, zu randalieren, das gesellschaftliche Leben zu stören?

EINSPIELER – 🎧 LENA BRANDAU

KIM: Die Nischen von Jugendlichen auf der einen Seite in Ruhe zu lassen und auf der anderen Seite hineinzuschauen, wenn sie ein gesellschaftliches Leben stören. Aber wer sagt, was eine Gesellschaft stört, wann greift man ein, und wer kontrolliert, wenn eine Nische gefährlich wird? Für den Kriminaloberrat der Polizei Duisburg, Herrn Colin Nierenz, ist soziale Kontrolle von Anfang an notwendig, um gefährlichen Nischen vorzubeugen:

EINSPIELER – 🎧 COLIN B. NIERENZ

KIM: Wisst ihr, wer hier wann und wo ein- und ausgeht? Als wir 2018 im Rahmen unserer ersten Residenz für eine längere Zeit hier in Reichenbach im Odenwald waren, kam ich mir selber sozial interessierter vor als ich es in der Stadt oft bin. Etwas war mit meinem Blick passiert. Nach zwei Wochen auf meinem Balkon bei Frau Eckel in der Ferienwohnung hatte ich das Gefühl, die Leute auf der Straße ein wenig zu kennen. Das war ein schönes Gefühl. Sobald unten ein anderes Auto vorbei kam, schaute ich runter und überlegte, ob ich die Person schon mal gesehen hatte. In der Stadt passiert mir so etwas weniger. Dort geht es anonymer zu, und ich schätze die Anonymität auch sehr. Aber dort laufe ich auch automatisch mit größeren Scheuklappen durch die Straßen, denn wenn ich alles so wahrnehmen würde, wie ich es hier tue, wenn ich hier auf dem Land bin, würde ich womöglich verrückt werden bei den ganzen Sinneseindrücken. Aber was, wenn der interessierte Blick in der Dorf-Nische zum kontrollierenden Blick wird, der die Nische des anderen einengt? Soziales Interesse, schön und gut. Aber wann kommt der Punkt, an dem aus sozialem Interesse soziale Kontrolle wird? Kippt die Nische dann und wird zur Blase?

DER VORHANG GEHT ZU

MERET: Vivian Glover und Alexander Kern hoffen auf eine Umkehr in der Landwirtschaft zu Micro-Farming, dass die EU ihre Subventionspolitik der großen Flächen ändert, die Landwirte wieder mündig werden und die Menschen wieder mehr kennen wollen, was sie essen. Ist die SoLaWi ein Modell für die Gesamtgesellschaft? Der Philosoph Daniel Loick sagt:

EINSPIELER – 🎧 DANIEL LOICK

MERET: Samen-fest, ursprüngliche Pflanzenarten, Rassegockel statt Hybridhuhn, Erntegemeinschaft in guten wie in schlechten Jahren – ist das auch auf dem Land eine Blase? Und für wen ist die SoLaWi-Blase vielleicht noch attraktiv?

VIDEO: „In Deutschland lebten früher die Germanen, unsere Ahnen, die Germanen! …“

MERET: Dieses Video wurde gepostet auf der Facebookseite der Volksgemeinschaft Niederrhein, einer rechtsradikalen Gemeinschaft aus NRW, die von dem in der Szene sehr bekannten Neonazi Kevin Giuliani geführt wird. Das Bild von den wehrhaften Germanen, die in kleinen idyllischen Siedlungen wohnen und gegen die Römer kämpfen, scheint ein Motiv der Szene zu sein und wird auch von AFD-Politikern wie Björn Höcke bemüht, der die wahre „Volksgemeinschaft“ auf dem Land zu finden glaubt: „Wenn alle Stricke reißen“, würde man sich in ländliche Refugien zurückziehen, und „die neuen Römer, die in den verwahrlosten Städten residieren“, könnten „sich an den teutonischen Asterixen und Obelixen die Zähne ausbeißen.“ Von dort aus würde dann „eine Rückeroberung“ ihren Ausgang nehmen.

MERET: Der Rückzug aufs Land von rechten Gemeinschaften hat längst begonnen und verfolgt eine sehr interessante Nischen-Strategie: Die Journalist*innen Andrea Röpke und Andreas Speit beschreiben in ihrem Buch „Völkische Landnahme – Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos“, wie „völkische“ Gruppen, oft von rechtsradikalen Zirkeln finanziert, gezielt sich leerende Landstriche besetzen, Bauernhöfe kaufen und die Felder und Weiden durch alte Landwirtschaftstechniken bestellen. Sie kommen der ansässigen Dorfgemeinschaft oft zunächst wie linke Ökos vor. Dabei ist ökologische Landwirtschaft nicht per se links. Im Januar 2019 referierte im politischen Veranstaltungszentrum der rechtsradikalen Identitären Bewegung in Halle ein studierter Landwirt über „solidarische Landwirtschaft“, und in der SoLaWi Rostock Land machen inzwischen hauptsächlich Rechte mit. In „Völkische Landnahme“ beschreiben die Autor*innen auch, wie sich „völkische“ Gruppen und Familien in Vereinen und freiwilligen Verbänden einbringen, wichtige pädagogische Schlüsselfunktionen in Kindergärten und Schulen besetzen und langsam das politische Klima im sogenannten „vorpolitischen Raum“ zu verändern beginnen.

(KINDER übernehmen, kommen zu MERET und nehmen das Skript. Das Licht im Saal geht an.)

HANNAH: Und hier sind besonders junge Menschen die Zielgruppe der völkischen Bünde, wie der Freibund e.V., die sich 2014 auch auf der Hessischen Jugendburg Ludwigstein trafen, oder dem Sturmvogel – Deutscher Jugendbund. Hier verfolgt die völkische Szene die gleiche Strategie wie generell die rechtsradikalen Szenen.

PHILIPP: Der Rechtsradikalismusexperte Dr. Pfeiffer beobachtet, dass seit 15 Jahren gezielt junge Menschen angesprochen werden sollen, indem ihnen eine ganze „Erlebniswelt Rechtsradikalismus“ aus Ferienlagern, Konzerten, jugendtypischen Aktion, Internetseiten und anderen Gemeinschaftserlebnissen geboten wird:

EINSPIELER DR. PFEIFFER 1

AMY: Wie kommt man in so eine Nische?

EINSPIELER DR. PFEIFFER 2

EINSPIELER – 🎧 DANIEL LOICK 2

VIDEO: T-REX

AMY: Schon wieder die Avantgarde! Die Nische – als soziales Phänomen – beschreibt eine ambivalente Situation, zwischen modellhaft und gefährlich bzw. gefährlich-modellhaft ... Aber der Begriff selbst öffnet zwielichtige Interpretationen: Nische wird hauptsächlich in der Biologie verwendet als ökologische Nische. Und was da mitschwingt, wenn wir biologische Begriffe auf die Gesellschaft übertragen, sagt der Urbanist Stefan Höhne:

EINSPIELER STEFAN HÖHNE

AMY: Deshalb müssen wir uns wohl auch fragen: Wer benutzt diesen Begriff wie? Mit welchem Interesse gegen wen?

KIM: Ich möchte noch mal zu meinem Nischenbegriff vom Anfang zurückkehren. Zu meiner eigenen Theater-Nische. Die Theater-Nische funktioniert so, wie andere Nischen, die sich im Rahmen von Verwertungslogiken befinden, das auch tun: Alle wollen Stücke produzieren, aber die Ressourcen sind begrenzt. Deswegen müssen wir alle Individualisten und Spezialisten sein, das ist unser Kapital, unser Glanz, unser Alleinstellungsmerkmal – sagt Andreas Reckwitz in seinem Buch “Gesellschaft der Singularitäten”: Mittels Social Media, Homepages und ausgefuchsten Konzepten und Selbstdarstellungen stellen wir, die städtische, akademische Kultur- und Medien-Nische, unsere einzelnen Nischen da, vermarkten sie, pflegen unseren einzigartigen Lifestyle und ergänzen ihn durch fancy Reisen, fancy Wohnungseinrichtungen und bilden unsere eigenen individuellen Identitäten heraus – und versuchen, dabei stets gut auszusehen. In der Medien, der Kunst- und Kulturnische, zelebriert jeder sein Speziell-Sein. Willkommen im urbanen, städtischen und diversen NISCHENLAND. Hier ist die Nische nicht mehr das Außergewöhnliche, sondern sie ist Notwendigkeit und Zwang, um gesehen zu werden. NISCH DICH oder geh unter. Absurderweise tragen alle Speziellen dann doch die gleichen weissen Turnschuhe. Ich hab heute extra mal Lederschuhe angezogen, um aus meiner Nische rauszufallen.

HANNAH: Der französische Meinungsforscher Jérôme Fourquet stellt heute eine „Kombination aus sozialer und räumlicher Fragmentiertung“ fest: „Die Spaltung in Metropolen und Umland, und innerhalb der Metropolen in gute und schlechte Gegenden. Die Spaltungen zwischen denjenigen, die der Einwanderung entstammen, und den Alteingesessenen. Zischen jenen, die auf der Globalisierungswelle surfen, und den anderen, die sich darin untergehen sehen. Das sind mehrere Raster, übereinandergelegt, und es ergeben sich daraus Inseln, die jede für sich existieren.“

AMY: Er erklärt: „Verschwunden ist die eine bestimmende Matrix, nach der sich das Land organisiert hatte.“ Und er belegt das an Beispielen wie: „Von 1900 bis 1945 war die Zahl der unterschiedlichen vergebenen Vornamen relativ konstant – um die 2.000. Heute sind wir bei etwa 13.000 verschiedenen Vornamen, und die Tendenz geht dahin, möglichst seltene Namen zu vergeben (Amy, Philipp, Hannah, Kim, Meret): ein Zeichen für kulturelle Diversifizierung und Individualisierung.“

PHILIPP: Aber war die Matrix früher wirklich einfacher, oder wurde sie nur einfacher gemacht, weil die Gesellschaft autoritärer war? Die Grundfrage ist:

(MERET öffnet den Vorhang, der Tisch mit den KINDERN dahinter wird angeleuchtet.)

EINSPIELER – 🎧 DR. ANDREAS GERLACH

HANNAH: Seht ihr den Tisch? Da stehen Kaffee und Kuchen bereit. Setzt euch und nehmt euch!

(ALLE setzen sich.)

LENA NEUSCHULZ: Vernetzt und abhängig.

ENDE



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